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Department of Social and Cultural Anthropology

Social and Cultural Anthropology

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Wie Alter den Unterschied macht: Klassifikationspraktiken, Zugehörigkeit und politische Subjektivität bei jungen Geflüchteten in Deutschland

SCHR 981/10-1 und SCHR 981/10-2

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What constitutes and characterizes minority or legal majority among refugees - and how does age make a difference in terms of rights (of residence), politics and affects? These are the two main questions we pursue in this project (funded by the German Research Foundation, DFG). Time and again there are intense public debates on the age of refugees and on forensic and pedagogic age assessment practices.

Indeed, unaccompanied minor refugees have different rights and opportunities than adult refugees: they have the right to a place in an apartment for young people, to a German language course and to schooling. At the same time, they need to adhere to the guidelines of pedagogic caretakers and legal guardians. Most of all, they have different opportunities than adult refugees when it comes to organizing their residence in Germany. For example, it is legally almost impossible to deport unaccompanied minors.

In our project, we focus on two research dimensions:

1) Classification practices, i.e. the enactment and manifestation of age as a category of difference in practices of age assessment;

2) The effects and consequences of these classifications, i.e. age-specific forms of belonging, rights, possibilities and restraints of young refugees with the status "unaccompanied minor".

In order to pursue our research questions, we plan a long-term ethnographic study. Here, we will conduct participatory observations at all important stations of the arrival process of young refugees and conduct interviews with the central actors of the different procedures. These include the reception and youth welfare services, pedagogic and forensic practices of age assessment as well as objection proceedings tied to them.

What is basic for the above described research dimensions is our understanding of the category of age as contingent, situated and dependent on specific enactment practices. In this way, we can analyze which elements become (ir)relevant and decisive in manifold medical, pedagogic and bureaucratic practices, when it comes to the question: is a refugee a minor? In order to study the effects of these classifications we work with the concept of political subjectivity which allows us to include rights and claim making as well as affective forms of belonging in our investigation.

By means of this first ethnographic analysis of the enactment and effectiveness of age in the context of migration this project also develops new approaches for a critical intervention in the dominant public discourse on the practice and meaning of age assessments in young refugees. Our project makes a theoretical and empirical contribution at the intersection of medical anthropology, science and technology studies (STS), studies on refugees and migration as well as research on childhood and youth.



Within these two research projects, Sabine Netz worked on her Ph.D. thesis titled "Staatsbürgerschaft als Ideal und Fiktion. Alterskategorisierungen und materielle Lebensverhältnisse im deutschen Staatsbürgerschafts- und Migrationsregime" which she submitted in July 2023.

Thesis summaryHide

Was haben Blumenkohl und Bananen, Altersschätzungen bei Geflüchteten, Proteste von Geflüchteten für Papiere und sozialarbeiterische Praktiken in Einrichtungen für unbegleitete Minderjährige mit deutschen Staatsbürger*innen und Staatsbürgerschaft zu tun? Diese Ethnographie folgt verschiedenen konkreten Strängen und Ereignissen auf lokaler Ebene und beschreibt, wie sie global und transzeitlich verschiedene Orte, Zeiten und Körper von unterschiedlich kategorisierten Menschenleben verbinden. In Medien, Nichtregierungsorganisationen, Parlamenten, Jugendämtern wurde und wird oft diskutiert, wie man das Alter von Geflüchteten einschätzen kann. Denn für diese macht es einen immensen Unterschied, ob sie als über oder unter 18 Jahre alt klassifiziert werden. Doch welchen Unterschied macht das für deutsche Staatsbürger*innen und die deutsche Staatsbürgerschaft? Wie sind die Leben von Staatsbürger*innen und Migrant*innen und außer-nationalen Territorien verbunden? Die Arbeit analysiert altersbezogene Kategorisierungspraxen für Migrant*innen als ein Beispiel für Praktiken, welche Menschen als nationale Staatsbürger*innen und Migrant*innen klassifizieren. Altersschätzungen klassifizieren Migrant*innen – immer auch in Abgrenzung zu deutschen Staatsbürger*innen – als unbegleitete Minderjährige oder erwachsene Asylsuchende, wobei letztere in der Konsequenz manchmal zu illegalisierten Migrant*innen werden.

Die Autorin argumentiert, dass der Fokus auf individuelle Eigenschaften von einzelnen Geflüchteten, die überprüft und diskutiert werden „müssen“, daher rührt und dazu beiträgt, dass in Altersschätzungsdebatten, Altersschätzungspraktiken und Jugendhilfepraktiken mit unbegleiteten Minderjährigen, materielle Lebensverhältnisse vergessen, verschleiert, unterdrückt werden oder schlichtweg unbekannt bleiben. Sie verdeutlicht den Altersfokus und die Verhältnisse innerhalb der Praktiken selbst, im generellen Staatsbürgerschafts- und Migrationsregime und in einem eng verflochtenen transnationalen, (post)kolonialen, kapitalistischen Beziehungsnetz von Staatsbürger*innen und Migrant*innen, von Staatsbürgerschaft und Migrationskategorien, von nationaler Staatsbürgerschaft und ihrem Außerhalb.

Einerseits beschreibt die Arbeit die den Altersschätzungspraktiken und –debatten zugrundeliegende Idee einer abgegrenzten, nationalen Staatsbürgerschaft als wirkmächtige Fiktion. Sie beschreibt Staatsbürgerschaft als „inkorporiertes Außerhalb“ und demonstriert die inhärente, fleischlich-körperliche Verwobenheit von scheinbar nationalen, autonomen Staatskörpern und Staatsbürger*innen-Körpern mit transnationalen Ländereien, transnationaler Arbeit, und transnationalen Migrant*innen. Inkorporation meint hier Prozesse der Einverleibung durch Nahrung, der Verkörperung von Staatsbürgerschaft, der Gesellschaftsformation als Nation und des Blackboxings hervorbringender transnationaler Verhältnisse. Andererseits zeigt sie, wie unbegleitete Minderjährige als eine spezielle Gruppe von Migrant*innen als potenzielle „Staatsbürger*innen von morgen“ in Fürsorge/Kontrollpraktiken erzogen und inkorporiert werden. Deren Inkorporation hat hierbei zwei Bedeutungen. Einerseits werden sie auf bestimmte Art als potenzielle Staatsbürger*innen einverleibt. Andererseits bringt die Kategorisierung – durch bestimmte damit einhergehende Lebensbedingungen, Lebenschancen und Lebensmittel – auch eine spezifische Verkörperung mit sich. Bei der Inkorporation von unbegleiteten Minderjährigen wird eine autonome, nationale Staatsbürgerschaft sowohl als verschleierndes Ideal als auch als eine wohlständige, rassifizierte und bürgerliche Praxis mit hervorgebracht und ermöglicht. Als Ideal wirkt sich autonome Staatsbürgerschaft gerade durch die Verschränkung altersbezogener Zuschreibungen mit Rassifizierungen und Klassenformierungsprozessen auf die Inkorporation unbegleiteter Minderjähriger aus.

Insgesamt ist das Argument, dass Kategorisierungen von Migrant*innen – wie etwa Altersschätzungen – materielle Lebensverhältnisse hervorbringen und diese gleichzeitig verschleiern, indem sie den Fokus des Zweifels und der Fürsorge nicht auf diese Lebensverhältnisse, sondern auf individuelle Lebensgeschichten, zugeschriebene Eigenschaften und Körper von Migrant*innen legen. Diese Kategorisierungen bringen sowohl mit der Regulierung durch Abschiebbarkeit als auch mit Praktiken der Inkorporation (und der Hoffnung auf Inklusion) konkrete, materielle und verkörperte Menschenleben, mit all ihren Lebensbedingungen, Lebensmitteln und Lebenschancen hervor und setzen diese Leben – etwa von deutschen Staatsbürger*innen, unbegleiteten Minderjährigen und erwachsenen Asylsuchenden – hierarchisiert miteinander ins Verhältnis.


Webmaster: Prof. Dr. Katharina Schramm

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